Lage in Haiti
Frau Dr. Anke Brügmann berichtet aus ihren Gesprächen mit Haitianerinnen und Haitianern vor Ort. Nach deren Einschätzung gibt es momentan keine Perspektive, dass Haiti aus eigener Kraft demokratische Wahlen organisieren könnte. Manchmal sei es kurz vor einem Embargo, dann hieß es wieder, die USA würden eventuell einmarschieren. Immer wieder würden Politiker ermordet werden. Aber von Wahlen würde man nichts hören. In Port-au-Prince gäbe es ab und zu Aktionen gegen Banditen. Aber letztlich hätten diese das Ausfahrtsviertel in dem Süddepartmente, Martissant, weiter fest im Griff. In vielen Vierteln würde geschossen. Die allgemeine Gewalt sei unverändert durch die Aktionen der verschiedenen Banden, aber auch einfach durch fehlende Polizei für die alltägliche Kriminalitätsbekämpfung. Die Banditen haben den meisten Transportunternehmern aus unserem Umfeld schon Lastwagen weggenommen, meist muss ein hohes Lösegeld gezahlt werden und die Ware ist verloren. Es wurde auch ein Viertel in Port-au-Prince vor kurzem von Banditen abgefackelt wurde. Dort wohnte die Familie des Vorarbeiters unserer Baustelle in Beaumont. Sie war nun auf der Straße und wir mussten sie zu uns holen. Es seine kaum noch Ausländer im Land.
Hilfreich ist die Unterstützung durch UNHAS (United Nations Humanitarian Air Service). Mit diesen Flügen kann Frau Dr. Brügmann innerhalb Haitis fliegen. Dies ist aus Sicherheitsgründen notwendig. Früher wurde sie mit dem Auto von Beaumont, die 150 km (zeitliche gesehen eine Tagesreise), gefahren. Jetzt ist die Strecke oft durch Straßensperren von Banditen blockiert. Abgesehen davon ist das Auto derzeit sowieso defekt. Daher sind wir sehr froh, dass Frau Dr. Brügmann die Hubschrauberflüge von UNHAS in Anspruch nehmen kann.
Wie geht es in Schule und Waisenhaus?
„Unsere Kinder spielen immer mehr mit Waffen und fühlen sich von ‚diesen Abenteuern‘ angezogen.“ Beschreibt Frau Dr. Brügmann den Umgang der Kinder mit der unsicheren Lage. Aufbauend ist, dass die Schule zwar verspätet, aber immerhin öffnen konnte nach den Sommerferien. Die erste Zwischenprüfung ist bereits abgeschlossen mit passablen Ergebnissen. Probleme macht das fehlende Schulmaterial, insbesondere die Schulbücher. Die Läden und Märkte sind alle geschlossen, und vieles ist sowieso vergriffen. Die Lehrkräfte werden weiterhin mittwochs von Frau Dr. Brügmann fortgebildet. Neben den üblichen Fortbildungen über Naturwissenschaften und Mathematik, was immer gut angekommen ist, ist jetzt vermehrt auch Französisch dazugekommen.
Wir haben in der Schule im Moment 16 Lehrer für die 16 Klassen (ohne die Kinderkrippe), eine Liberolehrerin für Nachhilfe, Organisatorisches und Vertretungen, 2 Büroangestellte für die Büros in Nan Ginen und Fontrankil. Zwei unserer Lehrer sind ehemalige Waisenkinder, zusammen mit der Betreuerin der Kinderkrippe sind es 3 ehemalige Waisenkinder. Das ist sehr erfreulich.
Die Kinder verteilen sich wie folgt:
Kinderkrippe
3 Vorschulklassen A – B – C
2 erste Klassen
3 zweite Klassen
3 dritte Klassen
2 vierte Klassen
2 fünfte Klassen
1 sechste Klasse
Ohne die Kinderkrippe sind es etwa 430 Schüler.
Anfang des Schuljahres waren noch die vierten, fünften und die 6. Klasse in Nan Ginen. Jetzt sind nur noch die beiden 5. Klassen dort.
Eine große Erleichterung ist es, dass unser Rektor Valleur nun mit dem Umzug der meisten Klassen mehr Zeit in Fontrankil verbringt.
Wir haben mit 16 dieselbe Klassenzahl wie im letzten Jahr. Die starken Jahrgänge der Zyklonflüchtlinge rücken jetzt in die höheren Klassen auf. Manche Kinder springen unterwegs ab, weil sie oft zu Verwandten in die Stadt geschickt werden und dort als Dienstboten in fremden Familien arbeiten.
Diebstähle:
Immer wieder verschwinden Dinge: Wolldecken, Handtücher, Kleidungsstücke und Geschirr. Diese Dinge werden dringend von den Menschen hier gebraucht. Auch Schulbücher werden gestohlen, um sie weiterzuverkaufen. Sie werden sehr gerne gekauft, da es kaum welche zu kaufen gibt.
Im Waisenhaus sind derzeit 70 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Auch dieses Jahr sind wieder einige ausgeschieden und dafür wieder kleinere dazugekommen.
Was besonders schwierig ist: Unis und weiterführende Schulen sind immer noch geschlossen, die Jugendlichen hängen in der Luft, es gibt kaum jemand, der ihnen ein wenig Programm bieten kann, und durch den Treibstoffmangel sind Ausflüge unmöglich. Viele sind in ihrer Bildung weit hinterher und sowieso schon zu alt, jetzt verlieren sie weiter wertvolle Zeit.
Studentenwohnheim Bergeaud. Hier müsste dringend fertiggebaut werden, aber es war unmöglich, nach Les Cayes zu kommen. Die Studentinnen und Studenten helfen in Beaumont mit: Kinderbetreuung, Nachhilfestunden, Baustelle oder Landwirtschaft. Außerdem hat Frau Dr. Brügmann ein paar Sonntage lang Englischkurse angeboten. Da haben alle Großen begeistert mitgemacht. Jetzt im Dezember soll es in einigen Unis wieder losgehen, andere warten bis Januar. Vor allem die Transportkosten sind immens. ein paar Sonntage lang Englischkurse angeboten. Da haben alle Großen begeistert mitgemacht.
Freizeit: Seit langem wieder ein Geburtstagsfest Anfang November für alle Kinder, die bis dahin Geburtstag hatten. Es gab eine große Schnitzeljagd organisiert. Manchmal werden auf einem Laptop Filme geziegt. Die Gruppen können Spaziergänge in die Umgebung machen, aber Autofahrten sind unmöglich. Die Kinder von Fontrankil dürfen auch in die Kirche gehen. Die Kinder helfen gerne bei den Tieren mit, oder bepflanzen ihre eigenen kleinen Fleckchen. Einige wollen kochen lernen, und auch das dürfen sie.
Medizinischer Einsatz
Ultraschall: Das Ultraschallgerät ist im Oktober endgültig kaputt gegangen, ein riesiger Verlust. Er hat schon vielen Menschen das Leben gerettet.
Außerdem fehlen: Diazepam-Rektiolen, alle möglichen IV-Medikamente, ein kleines CTG-Gerät.
Frau Dr. Brügmann hat weiterhin an den Werktagen ab 16 Uhr Sprechstunde, ein Großteil der Patienten sind Schwangere. Die Patienten kommen oft schon früh am Morgen und liegen den ganzen Tag vor dem Tor, um zu denen zu gehören, die durchkommen. Viele müssen jeden Tag weggeschickt werden. Oft sind Patientinnen und Patienten stationär da, und das wird immer schwieriger. Das Klassenzimmer, das als Krankenzimmer dient, wird am nächsten Morgen wieder gebraucht, und das Zelt ist so weit zerrissen, dass man hier niemanden mehr aufnehmen kann.
Patienten müssen noch Mundschutz tragen, man weiß ja vorher nicht, wo sie herkommen und was sie haben. Von Corona redet sonst keiner mehr. In Pestel ist die Cholera angekommen, eine Küstenstadt aus der Nachbarschaft, die keine Quellen, sondern nur Regenwasser hat. Frau Dr. Brügmann hat vorsichtshalber Infusionen in größerer Menge als üblich bestellt, aber sie sind noch nicht gekommen. Lieferschwierigkeiten. Falls je Cholera käme, müsste sie sich für die Cholerahilfe oder die Kinder entscheiden, beides geht nicht.
Bau:
Drei Klassenzimmer sind noch nicht fertig, wurden aber jetzt bezogen. Insgesamt benötigt unsere Schule 16 Klassenräume. Das entspricht der derzeitigen Klassenzahl. 3 Klassen sind noch provisorisch im Saal und in der Bibliothek untergebracht, 2 Klassen sind noch in der alten Anlage. Es werden also weitere 5 Klassenzimmer benötigt.
Folgendes ist zur Finanzierung zu sagen:
- Da die Engineers without Borders zurzeit wegen der unsicheren Lage nicht einreisen können, gibt es viel mehr Handwerkerrechnungen.
- Baumaterialien und Transportkosten sind erheblich im Preis gestiegen. Alles ist davon betroffen, auch Sand und Kies, weil überall Transportkosten mit einfließen.
Weitere Bauprojekte:
1. Es gibt ein 7-Punkte-Programm zum Wiederaufbau der Erdbebenschäden auf unserem Land. Im Moment haben wir das aber aufgegeben, weil Transporte und Baumaterialien unerschwinglich sind und unsere Reserven zu Ende gehen. Die einzelnen Teilprojekte: Wasserversorgung in Nan Ginen, Wiederaufbau und Ergänzung der Außenmauer in Nan Ginen, Wiederaufbau der alten Küche in Haus A mit Montage der Solarpanele auf ein anderes Dach, Wiederaufbau der Außenmauer in Fontrankil, Einfriedung für die Tiere in Fontrankil mit Wiederaufbau des Schweinestalls, Wiederaufbau des Hauses Kay Tiblan, das wir für die Unterbringung der Studenten in den Ferien und auch für die EWB brauchen, Wiederaufbau des Sozialwohnungskomplexes Kay Adriyen, als kleiner Punkt kommt dann noch eine Dachreparatur in Kay Sinistre dazu.
2. Die Wasserversorgung in Fontrankil ist schlecht. Das Loch für die große Zisterne wartet immer noch auf die Einreise der EWB. Das Projekt ist so anspruchsvoll, dass wir da gar nichts dran machen können.
3. Weiterbau am Waisenhaus in Fontrankil. Die Wohngruppen sind überfüllt, das einzige bisher fast fertige Wohnhaus ist statt mit auf dem Plan 8 Kindern mit 20 Kindern belegt, eine Kindergruppe lebt im Küchenkontainer und duscht im Gasdepot, und eine Gruppe lebt im zukünftigen Spielzimmer bei der großen Halle. Weitere Gruppen müssten dringend umziehen. Zwei Bauplätze wurden von den EWB’s bereits vorbereitet.
4. Neben den Klassenzimmern haben wir viele Schulmöbel neu geschreinert oder repariert. Das war zum Schulanfang unvermeidlich. Leider liegt das Projekt, zusammenklappbare Biertische und Bänke in der Berufsschule Jeremie mit Hilfe des befreundeten Vereins Pro Haiti herzustellen, auf Eis. Es gibt die Baumaterialien nicht zu kaufen. Wir warten weiter.
5. Weiterbau in Bergeaud dringend, aber derzeit nicht möglich.
Propangastankstelle
Die Tankstelle musste Mitte September schließen, zum einen gab es zu viele brennende Barrikaden in unmittelbarer Nähe, zum anderen wurde auch kein Gas mehr geliefert. Wir hoffen sehr, im Laufe des Dezembers wieder welches bestellen zu können. Unsere Kantine tut sich derzeit schwer mit dem teuren und schwer zu bekommenden Feuerholz.
Landwirtschaft:
Es gab nicht viel Ertrag. Aber wir haben ein paar eigene Lebensmittel und zu den Festen eigenes Fleisch. Einer unserer beiden Agronomiestudenten von unseren Waisenkindern könnte sich hier in Zukunft engagieren. Er hat schon viele gute Vorschläge gemacht, aber das dauert noch.
Küche:
Frau Dr. Brügmann: „Die Lebensmittel sind wohl durchschnittlich im Preis verdoppelt. in Ausnahmefällen bis zu 5-mal so teurer. Schlimmer sind noch die Lebensmittel, die gar nicht mehr auf dem Markt sind oder nur sehr schwer zu bekommen sind. Früher konnten wir durch Großeinkäufe und Abonnements Geld und Zeit zu sparen. Jetzt müssen wir vieles mühsam in vielen kleinen Mengen zusammenkaufen. Besonders davon betroffen sind Salzkekse, Mehl, Brot, Spagetti, Salzheringe, Öl und viele Gemüsesorten. Weil es kein Brot mehr gibt, reißen sich die Leute auf dem Markt das Maniokbrot gegenseitig aus den Händen. Das Essen bei uns war lange Zeit sehr trocken, Reis ohne Öl oder Soße, viel hat man davon nicht runter gekriegt. Über viele Wochen haben wir die große Geburtstagsfeier unserer Kinder immer wieder abgesagt, weil das Festessen für die Kinder eben das Wichtigste dabei ist, und wir bekamen die Zutaten nicht gekauft. Es ist jetzt etwas besser, und Anfang November haben wir dann doch gefeiert.
Für die Schule ist die Kantine jetzt extrem wichtig. Es gibt immer mehr Hunger in den Familien.“
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